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09. März 2009

Von Ralph Lorenz Hameln (wbn).

„Mystica Hamelon“ – die erste Großveranstaltung im Jubiläumsjahr des Rattenfängers hat eines zur Gewißheit gemacht: der Rattenfänger wird der große Verlierer im Rattenfängerjahr werden. Denn egal, wieviele Kinder er hinter sich herlockt, sie werden ihm alle wieder abgenommen. Kinder verführen darf in unseren Zeiten nur die Werbung, nicht aber der Rattenfänger. Und seine neue Dienstkleidung im Jubeljahr sieht überdies völlig beschissen aus. Designerinnen aus Hannover haben sich daran vergriffen und sind auch noch stolz drauf. Ein Lumpengewand haben sie ihm verpasst, so traurig, dass selbst die Ratten mit verheulten Augen rumlaufen. Aber es wurde zur Festeröffnung vorgestellt und gefeiert als wäre dies die historische Neuauflage von „des Kaisers neue Kleider“. Alle waren beeindruckt von der Vorstellung, dass der historische Rattenfänger ein armer Lump mit filzgrauen Klamotten gewesen sein muss. Sowas muss man nicht stylisch schneidern, da reicht eine nächtliche Filzaktion der Papierkörbe mit ihrem armseligen Inhalt in der Altstadt. Schlimmer noch: Im Zeichen der Weltwirtschaftskrise wird der Lumpenstil des Rattenfängers 2009 bald nicht mehr auffallen. Genauso wenig wie die grauen Plakate mit der zaghaften Schrift in der Straßenplakatierung ins Auge stechen. Sie verschwinden im Nebel der Erinnerung, haben in der Masse aber ordentlich Geld gekostet. Warum dann so viele über das Mist-Wetter bei Mystica Hamelon am Wochenende schimpften, ist wiederum nicht verständlich. Wer grau plakatiert, erntet graues Wetter. Da halfen auch die aufgeblasenen und illuminierten Groß-Kondome am Bahnhofsplatz nichts (was sollte es anders sein?). Vor 15 Jahren schon waberten sie in den Hallen von Esoterik- und Erotikmessen in Köln, Berlin und München. Jetzt haben sie schlussendlich auch die Provinz erobert. Aber es gibt auch einen Gewinner des „Mystica Hamelon“-Auftaktes in Hameln. Es ist die Bahnhofstraße. So voll war sie schon lange nicht mehr. Das Rattenfänger-Thema „Mittelalter“ hat die Massen an diesen sonst verschwiegenen Ort verführt. Doch die Art und Weise, wie hier das Mittelalter-Thema umgesetzt wurde, entspricht der üblichen Herz- und Phantasielosigkeit der Eventplaner. Vier Leierkasten-Spieler im Eingangsbereich – das ist zwar imposant, aber nicht mittelalterlich. Auch das gegenüber dudelnde Kinderkarussell mit dem Lale Anderson-Hit „Vor der Kaserne…“ dürfte eher aus dem jüngeren Mittelalter kommen und unter Historikern umstritten sein. Eine Hüpfburg aus dem ausgehenden aufgeblasenen Mittelalter hätte es wenigstens noch rein Burgen-mässig gebracht. Dass die Ritter und Burgfräulein Bismarck-Hering und Pizza gegessen haben, ist ebenso wenig belegt. Dafür sorgte aber der chinesische Fast-Food-Stand für absolute Vorbildtreue. Hatten nicht schon die Tartaren die europäische Küche belagert? Natürlich waren einige mittelalterliche Figuren angeheuert worden, die den Auftrag hatten dekorativ in Grüppchen zu stehen und sich am offenen Feuer im absoluten Halteverbot die Hände zu wärmen. Wäre nicht die prächtig gewandete "Historische Interessengemeinschaft Ohsen-Emmerthal" um Gerhard Lindhorst und Rosemarie Scholz dabei gewesen, hätte sich die Szenerie thematisch vollends erübrigt. Die üblichen Verdächtigen einschlägiger Gauklerfeste hatten ihre Stände und machten das, was sie immer machen – Seife, Honig, Met, Rosenwasser, Zaubersteine und andächtig hergestellte Geschmacklosigkeiten verkaufen. Filzereyen, Korbflechter und Steinmetz fanden sich ebenfalls ein. Da wollte auch der sonst von der Verkehrsachse abgehängte HefeHof nicht zurückstehen. Dort gab es ebenfalls Esoterikmessen-Beleuchtung, aber immerhin auch fromme Gesänge von der CD im Widerhall der einstigen öldunstdurchtränkten Fabrikgemäuer. Auch lauerten nahe der Toilettenanlage mittelalterliche Wegelagerer den Besuchern auf, die ein dringendes Bedürfnis verspürten: Es war die historisch frühe Variante der ukrainischen Toilettenfrau vor der Kleingeld-Münzenschüssel im Autobahnraststätten-WC-Bereich. Dafür zahlten die Besucher gern freiwillig, die den verschlungenen Weg zu den Modellbahnfreunden im HefeHof fanden. Die haben nämlich ihre Anlage thematisch ins eisenbahngeschichtliche Mittelalter verlegt (60er/70er Jahre) und – immerhin – eine Modellbahn-Burg aufzuweisen. Im Bahnhofsviertel haben sie zudem, ganz Mann im Kinde, ein bläulich illuminiertes Puff im HO-Maßstab und mit Liebe zum Detail (und im Detail viel Liebe) aufgebaut. Was noch fehlt auf der Hamelner Anlage ist ein Rattenfänger. Aber „Mystica Hamelon“ dauert ja noch ein ganzes Jahr.